Der Tabuchet-Gletscher, die Refuge de l’Aigle und der Glacier de l’Homme

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Die erhabenste Berghütte der Écrins und ihre Abfahrt

Von Sergei Poljak

Einleitung

Seit sie als neugierige 18-jährige Erstbesucherin in La Grave, Frankreich, war, hegte meine Freundin den Traum, in der Refuge de l’Aigle zu übernachten. Bekannt als eine der schönsten, wenn nicht die schönste Hütte der Alpen, ist die Aigle im Winter nur über vergletscherte und felsige Passagen zu erreichen und somit für viele außer Frage. Ich selbst hatte bisher nicht viel über die Aigle nachgedacht; meine ersten beiden Saisons in La Grave waren historisch trocken, und im ersten Jahr war sie glaube ich gar nicht geöffnet.

Als im Oktober und November der nasse Schnee die Gletscher bedeckte, wurde klar, dass dieses Jahr anders werden würde. So gaben wir uns ein lose gefasstes Versprechen, im Laufe des Winters einmal hier zu übernachten. Die Saga der Aigle hatte begonnen.

Die Refuge d’Aigle. Foto: Anna Lochhead. Refuge d’Aigle
Die Refuge d’Aigle. Foto: Anna Lochhead

Die Refuge de l’Aigle, auf Deutsch „Adlerhütte“, liegt, liegt auf einer Höhe von 3.450 m auf einem Grat zwischen dem L’Homme- und dem Tabuchet-Gletscher. Die Hütte wird von den Giganten der Écrins umrahmt: Pic Gaspard, Meije Orientale, Doigt de Dieu und Grand Pic de La Meije ragen bedrohlich und eingefroren in den Himmel.

Die Aigle dient hauptsächlich als Sommerquartier für Bergsteiger auf diversen Missionen, etwa an der legendären La Meije oder Meije Orientale. Bergsteiger starten normalerweise von der Refuge du Promontoire zum Gipfel der La Meije, kehren aber auf dem Rückweg meist in der Aigle ein. Allerdings öffnet sie für ein paar kurze Wochen im April (in diesem Jahr gerade einmal 18 Tage) als Zuflucht für Skifahrer, die einige der epischsten Abfahrten der Alpen in Angriff nehmen wollen. Neben der körperlichen Herausforderung, die Hütte zu erreichen, ein Aufstieg von 1.900 m vom Weiler Villar d’Arêne, kommt noch die Schwierigkeit hinzu, die perfekten Bedingungen zu erwischen.

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Wir hatten gehofft, über den Tabuchet-Gletscher aufzusteigen, der sich in beeindruckender Manier über der legendären Skistadt La Grave erhebt. Der Grund: Wir wollten nicht den Serret du Savon nehmen, die üblichere und körperlich weniger herausfordernde Route zur Aigle. Die letzten beiden Winter waren warm und trocken, gefolgt von noch wärmeren und trockeneren Sommern. Während sich der Glacier de la Meije unaufhaltsam und undurchschaubar den Berg hinabbewegte, fiel kein neuer Schnee, der das Eis ersetzt hätte, sodass blankes Gestein am Fuß des Couloirs zum Vorschein kam. Während der Serret mittlerweile Mixed-Klettern mit Steinschlag bedeutete, blieb der Tabuchet eine lange, aber technisch eher einfache Option... und hoffentlich unsere.

Die letzten Sonnenstrahlen fallen auf La Meije und den Tabuchet. Foto: Sergei Poljak. Refuge d’Aigle
Die letzten Sonnenstrahlen fallen auf La Meije und den Tabuchet. Foto: Sergei Poljak

Der Winter macht sich breit

Der Winter 2023/24 in den Écrins stand sinnbildlich für das neue Zeitalter des Klimawandels. Einerseits traf eine Reihe früher Winterstürme auf das Massiv und brachte enorme Schneemengen in die höheren Lagen. An der zentralen Wetterstation der Écrins, am Fuß des Glacier de Bonnepierre auf 2900 m, wurde bis Mitte Dezember bereits eine Schneedecke von drei Metern gemessen – ein neuer Rekord. Mit Beginn der Skisaison machte sich in La Grave eine Mischung aus Erleichterung und Vorfreude breit.

Inzwischen kämpfte Europa weiter mit anhaltend mildem Wetter. Zwar lag in den höheren Lagen außergewöhnlich viel Schnee, doch weiter unten wollte der Winter nicht richtig Fuß fassen. Nach dem rekordträchtigen Schneefall Mitte Dezember folgte prompt eine Warmphase, die La Graves Saisonstart vermieste. Auch im Januar wiederholte sich das Spiel: Tiefschneetage wie aus dem Bilderbuch und kurz darauf Temperaturen, die alles in blankes Eis verwandelten.

Der Winter blieb die ganze Saison über launisch. Mal schneite es wie im Bilderbuch, dann folgten wieder Wärme und sulziger Schnee. Diese Unbeständigkeit machte es fast unmöglich, passende Bedingungen für längere Skitouren zu erwischen. Das richtige Zeitfenster nach einem Sturm zu treffen, glich einem Präzisionsschuss aus tausend Metern Entfernung und der April brachte keine Besserung.

Pulverschnee im März 2024. Foto: Martin. Refuge d’Aigle
Pulverschnee im März 2024. Foto: Martin

Doch es gab auch gute Nachrichten. Zum ersten Mal seit 2017/18 war der Glacier de l’Homme wieder in hervorragendem Zustand. Nach zwei Jahren Trockenheit, in denen der einst stolze Gletscher im Sommer zu einem brüchigen Haufen Seracs verkommen war, zeigte er sich 2024 wie verwandelt. Jede Sturmphase füllte neue Spalten, und im März wirkte der L’Homme fast wieder wie ein „echter“ Gletscher, so, wie man sie aus alten Zeiten kennt, als die Alpen noch jede Menge Schnee hatten.

Es wurde außerdem immer deutlicher, dass der Glacier de l’Homme zu einer mythischen Liga der Skirouten gehört. Pelle Lang, der berüchtigte „Erfinder“ von La Grave, sagte uns schlicht, dass er ihn „unter seinen Top Ten Abfahrten“ einordne. Für mich war das alles, was ich hören musste. Wenn etwas in Pelles Top Ten steht, sollte es wahrscheinlich auch auf deiner Liste stehen.

Die Nordwand des Écrins sieht so massiv aus wie seit zehn Jahren nicht mehr. Von links nach rechts sind die markanten Gipfel Les Agneaux, Pelvoux und Barre des Écrins zu sehen. Foto: Sergei Poljak. Refuge d’Aigle
Die Nordwand des Écrins sieht so massiv aus wie seit zehn Jahren nicht mehr. Von links nach rechts sind die markanten Gipfel Les Agneaux, Pelvoux und Barre des Écrins zu sehen. Foto: Sergei Poljak

Wahl des Datums

Aufgrund eines Wartungsproblems öffnete die Aigle nicht wie geplant am 28. März, sondern erst am 10. April, was unser ohnehin schon kleines Zeitfenster für den Zugang noch weiter verkürzte. Im Nachhinein war es wohl besser so, denn die Téléphérique in La Grave blieb in den letzten Märztagen und den ersten Apriltagen ganze acht Tage hintereinander geschlossen. Ich bezweifle, dass überhaupt jemand die Aigle hätte erreichen können.

Dennoch wussten wir, dass die Bedingungen passten, nachdem wir mehrere andere Skitouren in den Écrins gemacht und mit lokalen Bergführern gesprochen hatten. Offenbar waren die Spalten auf der Hauptroute kaum ein Problem, da sie bereits von vier bis fünf Metern festem Schnee bedeckt waren.

Zunächst entschieden wir uns für Donnerstag, den 11. April. Ganz im Trend der Saison handelte es sich um ein erneut extrem kurzes Zeitfenster. Nach frischem Neuschnee waren die Bedingungen gut, doch rasche Erwärmung kündigte sich an. Für Freitag, den Tag unserer Abfahrt, wurden am Gipfel 7 °C vorhergesagt. Angesichts der instabilen Schneedecke und des anhaltenden Windes in großer Höhe entschieden wir uns, abzuwarten.

Rückblickend war ich froh, dass wir gewartet hatten. Trotzdem wagten an diesem Wochenende mindestens ein Dutzend Teams den L’Homme, obwohl die Temperaturen am Samstag und Sonntag auf 3100 m 11 °C erreichten. Meines Wissens nahmen sie alle den Zustieg über den Savon, nicht über den Tabuchet.

Stattdessen genossen wir sommerliche Temperaturen in der Savoie beim Schwimmen und Radfahren. In ganz Europa purzelten Rekorde: In Innsbruck wurde bereits am 13. April der Monatsrekord für höchste Temperaturen gebrochen... deutlich früher als jemals zuvor.

Zurück in den Alpen hatte sich das Wetter geändert. Die Temperaturen fielen spürbar. Wir wählten Freitag, den 19. April, für unsere Tour. Zwar sollte sich das Wetter wieder ändern, aber am Morgen war ein kurzes Fenster zu erwarten, und der Samstag schien für die Abfahrt geeignet.

Der Aufstieg

Freitag war eisig, und ich nutzte die Kälte als Vorwand, um den Start etwas hinauszuzögern. Durch Wälder und Geröllfelder im Dunkeln zu stolpern – unter den wachsamen Augen der Wölfe – war mental zu viel. Wir beschlossen, um 6 Uhr loszulegen; kein klassischer Alpine Start, eher das, was man „den ersten Hahnenschrei“ nennt. Trotzdem fanden wir kaum Schlaf, die Berge und der drohende Wecker verfolgten unsere Träume.

Morgens standen wir auf, stärkten uns mit einem üppigen Frühstück und machten uns gegen 6:15 Uhr in Skischuhen auf den Weg. Für ein paar echte Nachteulen gar kein schlechter Start.

Mit strahlenden Augen und voller Tatendrang. Foto: Anna Lochhead. Refuge d’Aigle
Mit strahlenden Augen und voller Tatendrang. Foto: Anna Lochhead

Wie in den letzten Jahren begann auch diese Tour mit etwa dreihundert Metern Fußmarsch. Wir folgten dem GR-50 von Villar d’Arêne bis zum Grat zwischen La Grave und Villar, bogen dann links in die Lärchenwälder ab. Als wir schließlich aus dem Wald traten, das Geröllfeld überquerten und den ersten Schneezungen erreichten, war klar: Es würde zunächst eine Wanderung bleiben. Der Schnee, am vergangenen Wochenende durch Hitze zu Brei geworden, hatte sich inzwischen in die Konsistenz eines Gletschers verwandelt.

Und so ging es weiter: satte 1300 Meter Aufstieg im Steigeisenschritt. Zu steil zum normalen Gehen, aber noch nicht steil genug für die Spitzentechnik, also setzten wir die meiste Strecke im Seitenschritt zurück. Jetzt wird mir klar, warum das die „französische Technik“ heißt.

Der Aufstieg mit Steigeisen beginnt. Foto: Sergei Poljak. Refuge d’Aigle
Der Aufstieg mit Steigeisen beginnt. Foto: Sergei Poljak

Die Route überquert einen leichten Grat und führt dann geradewegs zum Tabuchet. Sobald man den Grat passiert hat, hält man sich nah an den Felsen links und steigt die Rinne am Flankenrand des Gletschers empor. Angesichts des gewonnenen Höhenunterschieds ist der Anstieg überraschend direkt und unkompliziert. Eigentlich wäre es ein schöner Aufstieg zum Spurenlegen gewesen – genau die richtige Neigung für rhythmische Spitzkehren. Leider war das für uns nicht der Fall. Das lange Aufsteigen auf steilem, vereistem Gelände war gleichzeitig mühsam und angespannt.

Endlich lag eine dünne Pulverschicht auf der eisigen Kruste. Am Gletscherbeginn (~2.800 m) wollten wir auf Felle wechseln, aber der Schnee war zu locker, die Kruste zu hart. Es folgten mehrere frustrierende Hin- und Her-Versuche: Felle waren unmöglich, selbst mit Steigeisen. Anna erlebte zudem einen katastrophalen Felle-Ausfall, als ein Fell völlig riss und das andere folgen wollte. Skibänder halfen nicht; erst jede Menge Kletterband.

Der Aufstieg geht weiter. Foto: Anna Lochead. Refuge d’Aigle
Der Aufstieg geht weiter. Foto: Anna Lochead

Endlich erreichten wir eine Schneefläche, auf der das Fellen wieder funktionierte, weit oberhalb des Gletscheranfangs. Doch unser Wetterfenster schloss sich noch schneller als erwartet. Dunkle Wolken brachen herein, es wurde windiger und es wirbelten kleine Schneetornados durch die Luft. Man hörte nur noch das Dröhnen des Windes.

Bei etwa 3.200 Metern begann es zu schneien, und die Sicht war längst dahin. Plötzlich waren wir in einer Welt voller Geister unterwegs. Riesige Spaltenzüge öffneten sich rechts am Tabuchet. Wie schon gesagt: immer dicht an den Felsen bleiben. Mit der PeakVisor-App war die Chance, sich zu verirren, praktisch null. Man muss GPS-Technologie einfach lieben!

Auf diesen Gletscherspalten haben sich etwa 6 Meter Schnee angesammelt. Foto: Sergei Poljak. Refuge d’Aigle
Auf diesen Gletscherspalten haben sich etwa 6 Meter Schnee angesammelt. Foto: Sergei Poljak

Sieben Stunden und 30 Minuten, 1.900 Meter Aufstieg im Steigeisenschritt, Felle-Pannen, verlorene Zeit, stetiger Wind und immer mehr Reif später waren wir mit den Nerven am Ende, als wir die Hütte erreichten. Zumindest wusste die PeakVisor-App, dass wir da waren... sehen konnte man sie erst, wenn man direkt davorstand.

Die Sicht schwand endgültig. Ab jetzt war alles weiß. Foto: Sergei Poljak. Refuge d’Aigle
Die Sicht schwand endgültig. Ab jetzt war alles weiß. Foto: Sergei Poljak
Unsere Route hinauf zur Aigle. Der Weg ist unkompliziert, ein GPS-Track ist also nicht unbedingt nötig. Dennoch wäre es ohne die App deutlich schwieriger gewesen, die Hütte im Sturm zu finden. Refuge d’Aigle
Unsere Route hinauf zur Aigle. Der Weg ist unkompliziert, ein GPS-Track ist also nicht unbedingt nötig. Dennoch wäre es ohne die App deutlich schwieriger gewesen, die Hütte im Sturm zu finden

Die Refuge d’Aigle

Die Aigle sitzt auf einem Felsvorsprung zwischen den Gletschern L’Homme und Tabuchet. Als die Wolken am nächsten Tag aufrissen und wir sie erblickten, dachte ich sofort: „Wie ein Adler im Nest, der über sein Königreich wacht.“

Am Vorabend war die Aigle ausgebucht, doch als wir ankamen war sie völlig verlassen. Die Hüttenwarte hieß uns willkommen und meinte, wir seien alleine. Alle anderen hatten kurzfristig abgesagt.

Wir erreichen die Aigle und entdecken: Die Heizung geht nicht. Foto: Anna Lochhead. Refuge d’Aigle
Wir erreichen die Aigle und entdecken: Die Heizung geht nicht. Foto: Anna Lochhead

Die Heizung streikte. Das Solarpanel hatte offenbar zu wenig Sonne. Draußen zwischen -10 und -15 ℃, drinnen immerhin 2 bis 3 ℃. Unsere Wasserflaschen blieben flüssig, alles andere fror. Jeder Atemzug war sichtbar, und für die nächsten 20 Stunden schwebte eine stetige Dampfwolke vor unseren Gesichtern.

Anna und ich krochen direkt unter einen Berg Decken. Stundenlang kämpften wir damit, die Kälte aus unseren Knochen zu vertreiben. Toilettengänge waren der pure Horror: Man musste nach draußen gehen, dem Wind und Schnee trotzen und sich in der kalten Kabine die Hose runterziehen... brrr. Wir waren dem Wind entkommen, aber nie dem Lärm. In der Hütte klang es, als schüttelten die Wettergötter eine riesige Decke über uns. Der Sturm tobte unaufhörlich, und selbst zurück in La Grave wirbelte der Schnee noch über den Tabuchet.

Anna freut sich riesig darauf, mit meiner warmen Daunenjacke auf Toilette zu gehen. Foto: Sergei Poljak. Refuge d’Aigle
Anna freut sich riesig darauf, mit meiner warmen Daunenjacke auf Toilette zu gehen. Foto: Sergei Poljak

Das Abendessen wurde gegen 18 Uhr serviert. Wir waren ausgehungert, und das Essen war köstlich. Es gibt nichts Besseres als einen Nudelauflauf auf 3.450 Metern. Die Hüttenwarte boten angenehme Unterhaltung und Tipps für die Abfahrt am nächsten Tag. Wir sprachen über die Zukunft der Aigle. Vielleicht würden eines Tages Gletscher und Permafrost so weit schmelzen, dass die Hütte einstürzt. „Aber keine Sorge“, sagte der männliche Hüttenwart, „das Wasser in unseren Flaschen ist immer noch gerade.“

Letztlich mussten Anna und ich uns zurückziehen. Unsere Füße waren zu eisig, um weiter am Tisch zu verweilen. Mit einer Festung aus Decken und einem letzten Gang zur Toilette, um nächtliche Unterbrechungen zu vermeiden, ließen wir das endlose Dröhnen des Windes über uns hinwegziehen und glitten langsam in den Schlaf.

Für Anna war die Nacht eher durchwachsen. Auf 3.450 Metern schläft man eben nicht besonders tief. Irgendwann wachte sie auf und schnappte nach Luft. Ich kann das gut nachvollziehen; mir ging’s ähnlich, als ich damals nach Colorado gezogen bin. Ich selbst musste gleich zweimal raus in den Sturm. Zwischen uns gesagt: Es ist gut möglich, dass ich es nicht ganz bis zur Toilette durch die oberschenkeltiefe Schneewehe geschafft habe und stattdessen ein kleines Stück Eis zum L’Homme beigetragen habe, Trotzdem hab ich erstaunlich gut geschlafen. Kein Schnarchen, keine anderen cordistes, einfach herrlich.

Der Glacier de L’Homme

Um sieben Uhr erhallte der Weckruf zum Frühstück und siehe da: Etwa 50 Zentimeter Neuschnee blockierten den Weg zum Klo. Es gab Brot mit Butter und Marmelade und heißen Kaffee zum Aufwärmen. Danach hieß es Schneeschaufeln, wobei ich ehrlich sagen muss: Das war hauptsächlich Annas Werk.

Ein kaltes Frühstück in der wunderschönen neuen Aigle, renoviert im Jahr 2014. Foto: Sergei Poljak. Refuge d’Aigle
Ein kaltes Frühstück in der wunderschönen neuen Aigle, renoviert im Jahr 2014. Foto: Sergei Poljak

Gegen 8:30 Uhr klarte der Himmel auf und offenbarte ein gewaltiges Amphitheater aus steil aufragenden Gipfeln. Zum ersten Mal seit unserer Ankunft konnte ich die Berge sehen, oder überhaupt irgendetwas. Der Glacier de l’Homme stürzte wie ein Fahrstuhlschacht in die Tiefe, gespickt mit saphirblauen Seracs. Ich habe La Meije schon tausendfach bestaunt, aber es fühlt sich an wie das allererste Mal. Ich fühlte mich wie eine La-Meije-Jungfrau.

Der L’Homme zeigt sich von seiner besten Seite. Foto: Sergei Poljak. Refuge d’Aigle
Der L’Homme zeigt sich von seiner besten Seite. Foto: Sergei Poljak

Eine Zeit lang ließen wir den Blick schweifen, doch dann begriffen wir, dass wir einen Abstieg aus diesem Ungetüm von Berg finden mussten. Der Wind tobte, der Gletscher verschwand immer wieder in einer Wolke aus Schneestaub. Da wurde mir bewusst: Die Adlerhütte wachte nicht nur über ihr Reich – sie lauerte auf Beute.

Die Terrasse, die sich um die Hütte bis zur Toilette erstreckt. Foto: Sergei Poljak. Refuge d’Aigle
Die Terrasse, die sich um die Hütte bis zur Toilette erstreckt. Foto: Sergei Poljak

Wir zogen die Felle auf (Anna klebte sie) und verließen unser eiskaltes Refugium. Draußen empfing uns eine noch gnadenlosere Kälte. Der Wind war so heftig, dass er uns beinahe von den Skiern riss. Wir spurten ein Stück den Grat hinauf, dorthin, wo Tabuchet und L’Homme zusammenfließen. Wir hatten den Verlauf auf PeakVisor studiert, mit den Hüttenwarten gesprochen und die Linie eben noch von der Hütte aus beobachtet. Jetzt aber tobte der Wind, und die Flanke fiel steil und bedrohlich in den Abgrund. Durch den Schneesturm sah ich kaum etwas; es war, als läge der ganze Schnee nicht auf dem Boden, sondern in der Luft. Nur die scharfen Konturen der Seracs stachen hervor. „Okay“, dachte ich, „ich bin mir ziemlich sicher, wir müssen da und da hindurchfahren, dann sind wir auf dem Gletscher…“

Aber nee, es war einfach zu heikel. Unsere Gesichter und Füße waren schon halb erfroren. Eine gute halbe Stunde war’s her, seit wir die Hütte verlassen hatten, und der Wind hatte absolut kein Erbarmen. Also: zurück zum Refuge.

Wind weht von der Aigle herunter. Foto: Anna Lochhead. Refuge d’Aigle
Wind weht von der Aigle herunter. Foto: Anna Lochhead

Wieder in unserem nur leicht weniger frostigen Unterschlupf versuchten wir, unsere klammen Füße wiederzubeleben und fragten uns, ob wir jemals von diesem Berg herunterkommen würden. Der Tabuchet tobte weiter im Sturm... keine Option, dorthin zurückzukehren. Die Hüttenwirte empfahlen, den Abstieg direkt unterhalb der Hütte zu wagen. Nach einer Stunde begann das Blut langsam wieder zu zirkulieren, und für einen Moment schien es, als hätte der Wind endlich nachgegeben. Vielleicht war’s nur Einbildung. Wir zogen die Ausrüstung an und machten uns auf den Weg nach unten.

Wir holten die Eisäxte hervor, und Anna trat eine kleine Wächte ab, die sich während des Sturms gebildet hatte. Dann glitten wir hinein. Der Hang war steil, doch aus der Nähe längst nicht so bedrohlich, wie er von oben gewirkt hatte. Der Schnee war grauenhaft... brüchig, windgepresst, unberechenbar, aber je tiefer wir in den L’Homme hinabstiegen, desto mehr flaute der Sturm ab.

Mit abnehmendem Wind ließen wir unseren Blick schweifen und erfassten die raue Umgebung. Riesige Seracs türmten sich auf, doch immer wieder öffneten sich Passagen. Es war berauschend, hier zu stehen – ein Ort, den ich jedes Mal bestaunt hatte, wenn ich den Col du Lautaret überquerte. Von der Straße aus wirkt er bereits unbarmherzig, und mittendrin ist er gnadenlos.

Alles um uns herum war gleißend weiß, keine Spur weit und breit. Wir folgten dem Weg des geringsten Widerstands... geradewegs nach unten. Der frische Schnee, von den stürmischen Winden an den Gletscherflanken weggeweht, hatte sich hier zu einer dichten Windplatte verdichtet. Zwar ein kleines Lawinenrisiko, aber das Skifahren war dadurch umso besser. Diese Platte verdeckte offenbar eine Spalte, die Anna prompt aufriss, als sie darüberfuhr. Zum Glück ist es schwieriger, zu stürzen, wenn man talwärts gleitet…

Überlegen, wie es weitergeht. Foto: Anna Lochhead. Refuge d’Aigle
Überlegen, wie es weitergeht. Foto: Anna Lochhead

Sanft und federleicht gleitete ich bis zur nächsten Wölbung, wo wir unter wackeligen Seracs auf die rechte Seite wechselten und kurz darauf wieder auf die linke. Die Hüttenwarte hatten uns beruhigt: Die schlimmsten Brocken seien in den letzten Tagen bereits heruntergefallen. Tatsächlich lag nun ein chaotisches Feld aus Eisblöcken vor uns, einige sichtbar, andere gut unter dem frischen Schnee versteckt. Auf die Einzelheiten wollen wir nicht eingehen, aber dieser Abschnitt war knifflig- Irrwege, Umwege und kleine Seitenschritte gehörten dazu.

Halbwegs ordentliche Kurven zwischen den Eisblöcken. Foto: Anna Lochhead. Refuge d’Aigle
Halbwegs ordentliche Kurven zwischen den Eisblöcken. Foto: Anna Lochhead

Vom L’Homme aus ging es weiter durch mehrere prall gefüllte Couloirs, hinunter bis zum Zehengletscher des Lautaret und schließlich auf den verbliebenen Glacier d’Armande. Bei idealen Schneeverhältnissen könnte man hier richtig loslegen und die Route in vollen Zügen genießen. Doch diesmal war der Schnee nicht gnädig: Zu kalt, nur leicht transformiert, und damit weit davon entfernt, perfekte Bedingungen zu bieten.

Wir überprüfen unsere Linie entlang des Restgletschers Glacier d’Armande. Foto: Anna Lochhead. Refuge d’Aigle
Wir überprüfen unsere Linie entlang des Restgletschers Glacier d’Armande. Foto: Anna Lochhead

Dann ging es über Eis, Kies und Äste hinunter zu den oberen Ausläufern des Romanche, den wir über eine Stegbrücke überquerten. Vor uns sprangen ein paar Gämsen den Hang hinauf. Die Ski wieder auf dem Rücken, warf ich einen letzten Blick auf den Berg und die Linie, die wir gerade gemeistert hatten, bevor wir zum Pied du Col zurückkehrten, wo unser Auto stand.

Irgendwo zwischen „Wow, das war unglaublich“ und „Nie wieder!“ Foto: Anna Lochhead. Refuge d’Aigle
Irgendwo zwischen „Wow, das war unglaublich“ und „Nie wieder!“ Foto: Anna Lochhead
Unsere Route nach unten. Refuge d’Aigle
Unsere Route nach unten
Anna freut sich, endlich die Brücke zu überqueren! Foto: Sergei Poljak. Refuge d’Aigle
Anna freut sich, endlich die Brücke zu überqueren! Foto: Sergei Poljak
Alle Infos für dein nächstes Abenteuer auf der Aigle findest du direkt in der PeakVisor-App.. Refuge d’Aigle
Alle Infos für dein nächstes Abenteuer auf der Aigle findest du direkt in der PeakVisor-App

Fazit

Da habt ihr es. Das ist die Saga der Aigle. Im Nachhinein zum Schmunzeln, in der Gegenwart aber ganz schön stressig. Die Hütte und ihre beiden Hauptabfahrten, L’Homme und Tabuchet, gehören zu den besten in den Alpen. Wir erwischten weder Pulverschnee noch Frühjahrs-Corn, aber immerhin lag viel Schnee – etwas, das heutzutage immer seltener wird. Vielleicht habt ihr ja mehr Glück.

Zum Abschluss noch ein wenig Inspiration vom großen, leider verstorbenen Philosophen John Dewey:

Monate vor seinem 90. Geburtstag diskutierte Dewey eines Abends mit Gästen über kulturelle Trends. Plötzlich platzte ein junger Mediziner heraus und ließ seinem geringen Interesse an Philosophie freien Lauf. „Wozu soll so ein Unsinn gut sein?“ fragte er. „Was bringt einem das?“

Der große Philosoph lehnte sich ruhig in seinem Stuhl zurück und lächelte anerkennend über die Offenheit des jungen Mannes. „Sie wollen wissen, wozu das alles gut ist“, sagte er. „Es ist gut, weil Sie Berge besteigen.“

„Berge besteigen?“ entgegnete der junge Mann unbeeindruckt. „Und was bringt das?“

„Sie sehen andere Berge, die es zu erklimmen gilt“, antwortete Dewey. „Sie kommen herunter, besteigen den nächsten Berg und entdecken noch weitere, die darauf warten, erklommen zu werden.“

Dann legte er behutsam seine Hand auf das Knie des jungen Mannes und fügte hinzu: „Wenn Sie kein Interesse mehr daran haben, Berge zu erklimmen, um andere Berge zu sehen, die erklommen werden wollen, dann ist das Leben vorbei.“

— The Progressive (Madison, Juli 1952)

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